NZZ: «Die Jugend hat immer geschrien, Gott sei Dank!»

Gespräch mit Kalina Oroschakoff & Gerald Hosp

Seite 1:

«Die Jugend hat immer geschrien, Gott sei Dank!»
Der Klimaökonom Gernot Wagner plädiert für eine Risikoabwägung
gho./oro. · Die Klimadiskussion wird häufig in einem missionarischen Ton geführt. Auch der Klimaökonom Gernot Wagner tut dies, er ist sich dessen aber bewusst. Der Österreicher, der in den USA eine akademische Karriere gemacht hat und in New York lebt, doziert aber nicht nur, er versucht sich auch im persönlichen Leben so klimafreundlich zu verhalten wie möglich. Bekannt geworden ist er auch damit, dass seine vierköpfige Familie in einer 70 Quadratmeter grossen Altbauwohnung in Manhattan wohnt – mit dem Ziel, die Treibhausgasemissionen der Familie zu minimieren. Klimapolitik am eigenen Leib.

Der Klimaökonom vertritt die Ansicht, dass in den Kostenschätzungen für den Klimawandel Extremszenarien zu wenig berücksichtigt werden. Bei Technologien wie Atomkraftwerken oder Geoengineering, mit dem künstlich in die Atmosphäre eingegriffen wird, spricht er sich für eine Risikoabwägung aus. Verständnis zeigt Wagner für die teilweise lauten Töne von Jugendlichen in der Klimadiskussion. Diese hätten schon immer geschrien. Heuchlerisch findet er hingegen, wenn jemand sage: Weil ein Gemälde beschmiert wurde, bin ich gegen Klimaschutz.

Die Jugend hat immer geschrien, Gott sei Dank!” von Gerald Hosp & Kalina Oroschakoff, Neue Zürcher Zeitung (27. September 2023), Seite 1. [PDF]

Komplettes Interview, Seite 23:

Herr Wagner, Sie sind nicht nur akademischer Klimaökonom. Sie sind auch mit Ihrer vierköpfigen Familie in eine 70 Quadratmeter grosse Altbauwohnung in Manhattan gezogen. Mit dem Ziel, die Treibhausgasemissionen der Familie zu minimieren. Wie schwierig war es, die Wohnung auf grün zu trimmen?

Wir haben viel Geld und noch mehr Zeit dafür aufgewendet. Ich habe für amerikanische Handwerker teilweise deutsche Passivhaus-Standards übersetzt. Ich habe mich mit Dachfenstern, Deckenisolierungen und Wärmepumpen beschäftigt. Für über ein Jahr war es mein Hobby.

Ist emissionsarmes Wohnen für Leute, die kein Vermögen dafür ausgeben wollen, ein Ding der Unmöglichkeit?

Man kann tatsächlich viel Geld investieren, etwa in den WLAN-fähigen Induktionsherd mit modernster Technologie. Umgekehrt gibt es auch eine sehr günstige Induktionsplatte. Ausserdem: Bereits nach vier Jahren sind unsere damaligen ambitionierten Lösungen viel günstiger, teilweise kosten sie mittlerweile nicht einmal mehr halb so viel.

Wie kommt dies zustande?

Technologien können nur immer besser und billiger werden. Dies trifft für Kohle, Gas und Öl nicht zu. Das sind Rohstoffe, deren Preise stark schwanken. Bei der Entkarbonisierung ist die Frage nicht mehr, ob, sondern wann.

Manche Politiker möchten mit Verboten die Transformation beschleunigen.

In den USA ist die altertümliche Glühbirne unter dem republikanischen Präsidenten George W. Bush verboten worden, der kein Linker ist. Donald Trump wollte dies wieder rückgängig machen. Ohne Erfolg. Unternehmen wussten, die neue Technologie ist besser und billiger.

Sind Verbote dann akzeptabel, wenn es kostengünstige Alternativen gibt?

Es geht nicht immer nur um Kosten. Mord und Totschlag sind verboten. Natürlich, als Ökonom gilt das Internalisieren aller negativen und positiven Effekte. Das heisst: einerseits Steuern oder Preise erheben oder andererseits Subventionen einführen. Ein Auto, das nach Manhattan fährt, verursacht mindestens 150 Dollar allein an Staukosten. Eine City-Maut von 150 Dollar pro Fahrt wäre also die autistische ökonomische Rechnung.

Was ist an solchen Rechnungen schlecht?

Wir leben in der Realität. Bei 150 Dollar pro Fahrt kann ich auch gleich sagen: Für die meisten Fahrten gibt es tatsächlich eine bessere Alternative. Man kann etwa den Verkehr am Broadway ganz streichen und durch Fahrradwege und Busspuren ersetzen. Die Stadt wird so lebenswerter. Es bedeutet auch mehr Freiheit, wenn die ineffiziente Glühbirne schon von vorneherein ausgeschlossen ist und ich nicht jedes Mal mit einem Taschenrechner ausrechnen muss, welche Glühbirne sich mehr rentiert.

Die Berechnung ist eigentlich nicht schwer. Häufig entscheidet man sich aber aus praktischen Gründen.

Deshalb gibt es eine Gesellschaft, Regierungen, Steuern und eben auch Steuerung. Der Homo oeconomicus lebt im Modell. In der Realität liebe ich die Freiheit, nicht alles immer selbst entscheiden zu müssen.

CO2-Preise und auch Verbote sind politisch unbeliebt. Die USA setzen jetzt vielmehr auf starke Förderungen für grüne Technologien. Die EU zieht nach. In der Schweiz wurden Förderungen durch eine Volksabstimmung beschlossen. Heisst das, dass wir uns jetzt zu den Klimazielen subventionieren?

Teilweise. Es geht darum, die neuen und besseren Energietechnologien zu fördern und die industrielle Umstellung zu beschleunigen. Und natürlich warnen manche vor einem Subventionswettlauf. Förderungen gibt es aber schon lange. Warum sollten wir gerade jetzt damit aufhören? Wir subventionieren den Konsum fossiler Energiegüter global mit mehreren Billionen im Jahr. Das ist das wahre Subventionswettrennen.

Das ist doch ein Argument gegen Subventionen. Und wenn nun eine Solarpanel-Fabrik in den USA gebaut wird und nicht wie geplant in Deutschland, hilft das beim Abbau von Emissionen?

Positive Externalitäten verlangen nun einmal nach Subventionen. Die Installation der ersten Solaranlage dauert ewig, bei der zehnten hat man schon viel gelernt, die tausendste ist noch viel billiger. Das gilt nicht nur für die USA, sondern auch für den Rest der Welt. Ein Kollege an der Columbia Business School hat in einer neuen Studie berechnet, dass die amerikanischen Subventionen die Produktivität und somit das Wirtschaftswachstum in der ganzen Welt erhöhen.

In Europa bereiten die amerikanischen Milliarden jedoch Sorgen.

Die Bürgermeister von Berlin und Brandenburg oder Ursula von der Leyen in Brüssel sorgen sich natürlich, wenn die nächste Gigafabrik nach Nevada abwandert. Das ist ihre Rolle. Aber der grüne Technologiewettlauf ist – weltweit gesehen – eine phantastische Entwicklung.

Ein Teil der Aktivisten sagt, der Kapitalismus sei schlecht für das Klima. Deshalb soll er abgeschafft werden.

Es gibt Probleme in der Welt, die unser heutiges Wirtschaftssystem nicht allein lösen wird und nicht allein lösen kann. Aber zu sagen, wie es viele Linke tun, diesmal schaffen wir die ideale Gesellschaft, nachdem es früher nicht funktioniert hat, ist naiv. Genauso naiv ist es aber von Wirtschaftsliberalen zu sagen, diesmal dürfe es keine Subventionen geben. Also ein klares Ja zu grünem Wachstum.

In der Klimadiskussion dominieren häufig laute Töne wie bei den Aktivisten der Letzten Generation. Ist dies der richtige Weg, um die breite Bevölkerung abzuholen?

Die Jugend hat schon immer geschrien, Gott sei Dank hat sie das. Dadurch haben sich viele Dinge positiv verändert.

Gibt es für die Aktionen auch Grenzen?

Natürlich, das ist auch Teil der politischen Debatte. Ich finde aber Stimmen heuchlerisch, die sagen: Ich wäre für Klimaschutz, weil aber ein Gemälde mit Farbe beschmiert wurde, bin ich dagegen. Es geht um eine positive Zukunftsvision. Dabei dreht es sich nicht nur um Technologie, sondern auch um Werte. Das heisst nicht, über Nacht das Fleischessen zu verbieten. Studien sagen aber, dass Vegetarier länger gesünder leben.

Die Diskussion erhält schnell einen missionarischen Ton. Auch Sie halten Ihren Lebensstil für vernünftiger als andere.

Stimmt, das tue ich. Es geht um Normen. Viele in unseren Breiten sind überzeugt, sie hätten ein Recht auf ein Einfamilienhaus. Dabei ist das eine Entwicklung der letzten fünfzig Jahre. Sie hat unsere Landschaften zersiedelt und eine Autokultur geprägt.

Muss sich also die Definition ändern, was ein gutes Leben ist?

Ohne Müssen. Die Definition ändert sich. Jetzt gilt es, den Optimismus und das Unternehmertum in die richtigen Bahnen zu lenken, um zu dekarbonisieren. Der Klimawandel ist das langfristigste, globalste und risikoreichste Problem überhaupt.

Wenn das Problem so gross ist, kann man überhaupt Lösungen finden?

Lösungen gibt es, selbst in den Sektoren, die schwer zu dekarbonisieren sind. Nehmen wir den Stahlsektor. Es gibt drei grosse Lösungen: Elektrifizierung verbunden mit Recycling, grüner Wasserstoff und Kohlenstoffabscheidung, -speicherung und -nutzung.

Umweltpolitische Puristen warnen jedoch vor Technologien zur Speicherung. Sie sorgen sich darum, dass deshalb Kohle, Öl und Gas neues Leben eingehaucht wird.

Bei jeder technischen Lösung gibt es ein sogenanntes moralisches Risiko, das zur Verschleppung von Emissionsminderungen führen könnte. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns nicht mit den Technologien auseinandersetzen müssen.

Kann man sich die Verpolitisierung gewisser Klimatechnologien noch leisten?

Für die Verpolitisierung ist es zu spät. Gleichermassen ist es auch zu spät dafür, die Physik zu ignorieren. Elektromotoren sind fünfmal effizienter als Verbrenner mit E-Fuels, Wärmepumpen sind fünfmal so effizient wie Gasheizungen.

Was bedeutet das für die Atomkraft?

Sollte man alte, sichere Reaktoren weiterlaufen lassen? Natürlich. Sollen wir weiterhin die grossen 1-Gigawatt-Meiler bauen? Hier ist die Antwort nuanciert. Diese Anlagen sind enorm teuer, für ein Land wie Österreich mit viel Wasserkraft sehe ich keinen Nutzen. Wären solche Anlagen eine gute Option in einem sich schnell entwickelnden Land, das stattdessen fünf Kohlekraftwerke bauen würde? Ja, mehr Inder und Chinesen wären länger am Leben. Wie steht es um kleine modulare Reaktoren? Auch hier gibt es Modelle, die Lösungen versprechen. Wir haben seit Jahrzehnten Kleinstreaktoren in U-Booten.

Kontrovers werden auch Geoengineering-Technologien diskutiert, mit denen künstlich in die Atmosphäre eingegriffen werden soll.

Geoengineering ist das Extrembeispiel. Da geht es um eine schwierige Abwägung zwischen den Risiken des Klimawandels und denen des technologischen Eingriffs.

Bleiben wir bei den Schäden und Risiken des Klimawandels: Können wir heute schätzen, wie teuer uns der ungebremste Klimawandel zu stehen kommen wird?

Wir können die sozialen Kosten schätzen, die durch jede zusätzliche Tonne Kohlenstoff entstehen. Sie liegen nach jüngsten Studien bei etwa 200 Dollar pro Tonne CO2. Umgerechnet auf das globale Wirtschaftsvolumen sind das ungefähr 8 bis 10 Prozent der Gesamtwirtschaft. Die Kosten sind enorm. Das heisst noch nicht, dass jede Alternative blind bevorzugt werden sollte, aber so falsch liegt man dabei gar nicht. Das Teuerste überhaupt ist, nichts gegen den Klimawandel zu tun. Die politische Frage heute lautet: Wer bezahlt?

Die Schätzungen des Nobelpreisträgers William Nordhaus besagen, dass die Kosten des Klimawandels im Vergleich mit der Zunahme der weltweiten Wirtschaftsleistung gering sind. Sie kritisieren diesen Ansatz.

Die naive und immer noch oft wiedergegebene Sicht lautet zumindest implizit folgendermassen: Unsere Wirtschaft läuft auf einem optimalen Pfad, und im Jahr 2100 erwischt uns der Klimawandel, das Bruttoinlandprodukt bricht um 25 Prozent ein. Warum 25 Prozent? Die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren war das bislang einschneidendste ökonomische Ereignis. Aber in der Zukunft sind wir dann viermal so reich wie heute. Daraus folgert man, der Klimawandel sei kein grosses Problem.

Ist diese Rechnung falsch?

Ja. Ein Beispiel: Ein Wirbelsturm fegt über Haiti und die Dominikanische Republik hinweg. Beide Länder liegen auf derselben Insel. In der vergleichsweise reichen Dominikanischen Republik fliegen Dächer weg, aber das Haus steht. Dachdecker kommen, und 18 Monate später steigt das Bruttoinlandprodukt sogar. In Haiti? Dort verschwindet nicht nur das Dach, das gesamte Haus fällt zusammen, Seuchen brechen aus. Eine Studie zeigt: 15 Jahre später ist die Wirtschaftsleistung Haitis immer noch niedriger als vor dem Wirbelsturm.

Die makroökonomischen Klimamodelle berücksichtigen diese Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum nicht?

Auch die makroökonomischen Klimamodelle entwickeln sich weiter. Ein Grossteil der Veränderung hat damit zu tun, dass wir heute mehr Schäden bewerten können. Wir wissen auch besser darüber Bescheid, wie wir zukünftige Schäden im Heute bewerten sollten. Je ungewisser die Risiken, desto höher ist der gegenwärtige Wert. Teilweise hat sich auch die Struktur des Modells selbst verändert. So beeinträchtigt der Klimawandel die Produktivität. Ein einfaches Beispiel: An heissen Tagen sind wir unproduktiver.

Bedroht der Klimawandel vor allem die Wirtschaft ärmerer Länder?

Es gibt auch in reichen Industriestaaten zu viele Klimatote, aber tatsächlich geht es weniger um Menschenleben, aber dafür mehr um Kapitalgüter, wie auch höhere Versicherungsprämien zeigen. Da sind wiederum die Schäden in reichen Ländern höher als in ärmeren.

Zur Person:

Missionar und Akademiker
Gernot Wagner ist Klimaökonom mit höchsten akademischen Weihen. Er lehrt und forscht an der Columbia Business School in New York. Zudem ist er Autor mehrerer Bücher, darunter auch der Bestseller «Klimaschock», den Wagner zusammen mit Martin Weitzman, einem Pionier der Umweltökonomie, geschrieben hat. Der 43-jährige Österreicher ist auch dadurch bekannt geworden, dass seine vierköpfige Familie in einer 70 Quadratmeter grossen Altbauwohnung in der amerikanischen Metropole wohnt – mit dem Ziel, die Treibhausgasemissionen der Familie zu minimieren. Klimapolitik am eigenen Leib, und dies auch medienwirksam inszeniert: Wagner hatte damals gut dreissig Journalisten in das Loft gezwängt, um von seinen Erfahrungen zu berichten. Er sieht sich in einer Rolle als Vorreiter unter den Klimaökonomen. Diese sollten Extremszenarien berücksichtigen. Zum Fortschritt in der Wissenschaft meint er bitter-bös: «Die Forschung schreitet voran, ein Begräbnis nach dem anderen.»

Interview: “Viele Linke sind naiv im Klimaschutz, sagt der Klima-Ökonom. Doch die Wirtschaftsliberalen sind nicht besser“, Gespräch mit Kalina Oroschakoff & Gerald Hosp, Neue Zürcher Zeitung (27. September 2023), Seite 23 [PDF].

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