“Durch Moral allein können wir das Klima nicht retten”

Interview mit Marina Delcheva


Wien/New York. Hitzewelle, Dürren, Extremwetterfronten – der Klimawandel lässt sich mittlerweile nur schwer leugnen. Sogar die oststeirische Kommune Michaelerberg-Pruggern hat den Klimanotstand ausgerufen. Der Kampf dagegen ist zum globalen Trend geworden. Jeden Freitag gehen junge Menschen für den Klimaschutz auf die Straße, die Grünen haben bei den EU-Wahlen europaweit Rekordgewinne erzielt und sogar die FPÖ möchte “grüner” werden. Klimaökonom Gernot Wagner erklärt im Gespräch, warum Wohlstand und Klimaschutz so schwer vereinbar sind. Und warum es nach dem Pessimismus Zeit für Optimismus ist.

“Wiener Zeitung”: Seit Monaten gehen junge Menschen weltweit jeden Freitag auf die Straße, um für mehr Klimapolitik zu demonstrieren. Begründete Sorge oder übertriebene jugendliche Euphorie?

Gernot Wagner: Begründete Sorge! Und sie liegen damit wissenschaftlich gesehen auch richtig. Unter den jetzigen Vorhersagen ist es mittlerweile viel zu spät zu sagen, dass wir den Klimawandel gänzlich aufhalten könnten, was natürlich nicht heißt, dass wir nicht sofort agieren müssen.

In Ihrem Buch “Klimaschock” vergleichen Sie den Klimawandel mit einem Meteoriten, der auf die Erde zurast. Was passiert, wenn klimapolitisch nichts passiert?

Also eigentlich wäre es gut, falls der Klimawandel tatsächlich so ein Meteorit wäre. Wenn wir zum Beispiel wüssten, dass so ein Meteorit am 1.1.2100 einschlägt und verdammt große Probleme verursacht, würde jetzt schon die internationale Staatengemeinschaft viel, viel mehr tun, um das Problem zu lösen. Das Problem ist, dass wir den Klimawandel an keinem singulären Ereignis festmachen können.

Unser Wirtschaftssystem fußt auf Wachstum, Konsum und damit auf einem hohen CO2-Ausstoß. Sind Klimaschutz und Wohlstand, wie wir ihn definieren, kompatibel?

Die kurze Antwort lautet ja. Die längere: Unbeschränktes materielles Wachstum in dem Sinn, mehr Rohstoffe zu verbrauchen und mehr zu emittieren, das geht natürlich nicht. Wachstum im Sinne eines qualitativ besseren Lebens? Das ginge tatsächlich, aber da müssen wir auch das Richtige messen. Derzeit ist es so, dass das Bruttoinlandsprodukt hinaufgeht, je mehr wir verschmutzen. Das Öltankerunglück Exxon Valdez hat das BIP der USA erhöht, weil die langen und teuren Aufräumarbeiten eingepreist wurden. Ist der Wohlstand dadurch gestiegen? Natürlich nicht!

Je ärmer ein Land ist, desto besser ist seine CO2-Bilanz und umgekehrt. Ist es möglich, Wachstum und Wohlstand von Treibhausgasemissionen zu entkoppeln?

Mit unseren jetzigen Technologien: nein. Es bedarf großer Investitionen in neue, erneuerbare Technologien, um unseren Lebensstandard zu erhalten und auch auszubauen. Die Technologien gibt es im Einzelnen schon. Airbus testet batteriebetriebene Zweisitzerflugzeuge. Aber es braucht auch eine Klimapolitik, die tatsächlich die Weltwirtschaftsströme umlenkt und CO2 bepreist.

Wie teuer muss eine Tonne CO2 werden, um den Ausstoß spürbar zu senken?

Sehr konservative Schätzungen gehen von 40 bis 80 Euro pro Tonne CO2 aus. Also um einiges höher als das Emissionshandelsgesetz in Europa derzeit (25 Euro aktuell, Anm.).

Die meisten EU Staaten lehnen Restriktionen wie eine CO2-Steuer ab und setzen auf Förderungen und Anreize für klimafreundliches Verhalten. Reicht das?

Wenn die Förderungen hoch genug sind, um die Wirtschaft in Richtung hohe Effizienz und niedrigere Emissionen umzulenken, könnte das tatsächlich ausreichen. Eine Kombination aus beidem wäre aber effektiver. Im Endeffekt geht es darum, nicht nur den Gewinn, sondern auch die Kosten meines wirtschaftlichen Handelns zu privatisieren. Derzeit sind die Gewinne privat, die Umweltkosten trägt aber die Allgemeinheit.

Aktiver Umweltschutz bedeutet Verzicht im Privaten: keine Billigshirts aus Bangladesh, keine Avocados aus Thailand, keine Flugreisen . . .

Natürlich ist es das moralisch Richtige, seinen Lebensstil so anzupassen, dass man möglichst emissionsarm lebt. Aber dadurch alleine können wir das Weltklima nicht retten. Es geht um viel mehr, um ein Systemumdenken. Fast jeder ÖBB-Zug, der in den Westen fährt, bleibt im Tullnerfeld stehen. Auf einem Bahnhof, wo es derzeit ein paar große Parkplätze gibt und sonst nichts. Warum? Um es billiger und attraktiver für Wiener zu machen, in den Speckgürtel zu ziehen und dort Einfamilienhäuser zu bauen. Wäre es klimapolitisch nicht besser, Stadtviertel wie Aspern auszubauen und für Jungfamilien attraktiver zu machen? Es ist Verantwortung der Politik, diese “moralischen” Schritte attraktiv für alle zu gestalten. Und ja, ein persönliches Umdenken ist Teil der Lösung, um diese bessere Politik betreiben zu können. Es muss nicht jede Hochzeitsreise auf Bali und jedes Politikergespräch auf Ibiza stattfinden.

Konsumgetriebene Billigproduktion hat vielen Menschen den Zugang zu Wohlstand und wirtschaftlicher Teilhabe ermöglicht. Wenn “moralisches” Verhalten Teuerungen von klimaschädlichen Gütern und Diensten zur Folge hat, steigt nicht die Ungleichheit weiter?

Sie sprechen das größte Problem überhaupt in der Debatte an – Entwicklung versus Umwelt. China hat in den letzten 20 Jahren 300 oder 400 Millionen Menschen durch teils zweistelliges Wirtschaftswachstum aus der Armut geholt, was natürlich zu mehr CO2-Emissionen geführt hat. Ich bin Umweltökonom und befasse mich mit Umweltschutz. Meine Frau ist Gynäkologin. Sie befasst sich mit dem Problem, dass heute noch viele Frauen während der Geburt sterben. Weil es zu wenig Straßen, Krankenhäuser und Zugang zu moderner Medizin gibt. Ein neues Krankenhaus erhöht die Emissionen. Worauf es hinausläuft, ist ein viel inklusiveres, umweltfreundlicheres Wachstum zu ermöglichen, um einer Milliarde Menschen nicht sagen zu müssen: Tut uns leid, wir haben uns gut entwickelt, ihr könnt jetzt leider nicht mehr, weil wir das Weltklima schon versaut haben. Ein Teil der Antwort ist, neue Technologien so billig zu machen, dass jene, die jetzt ihren Wohlstand steigern, nicht dieselben Fehler machen – machen müssen -, die wir gemacht haben.

Wie viel Potenzial steckt in neuen Technologien?

Es sind diese radikalen, rasanten technologischen Fortschritte, die mich optimistisch stimmen. Natürlich bedarf es zusätzlicher politischer Maßnahmen, die dafür sorgen, dass die Forschung in die richtige Richtung geht.

Können Sie die sogenannten Carbon- und Solar-Geoenegineering-Verfahren erklären?

Kurz und einfach: Bei Ersterem geht es darum, CO2 wieder aus der Atmosphäre herauszuholen. Bäume machen das seit jeher. Es auf industrielle Art und Weise zu machen, ist tatsächlich auch möglich, es kostet aber einiges. Das ist aber auch etwas, das mich sehr optimistisch stimmt: Die Kosten zeigen steil hinunter. Beim Solar-Geoengineering geht es darum, die Erde im Allgemeinen heller, also reflektierender zu machen, um mehr Sonnenstrahlen wieder ins Weltall zurückzusenden. Und dadurch zu versuchen, die Erde zu kühlen. Wir wissen, dass das vom Prinzip her funktionieren könnte, weil Vulkanausbrüche das Gleiche bewirken. Nach jetzigem Wissensstand wäre es aber viel zu riskant. Und eine Lösung für den Klimawandel ist es nicht. Es ist ein Schmerzmittel, das die Symptome lindert, aber kein Ersatz für Klimapolitik. Emissionen müssen wir so und so reduzieren.

Von Fachkollegen hört man oft: Für Optimismus ist es schon zu spät. Stimmt Sie dennoch etwas positiv?

Was mich am positivsten stimmt, um auf ihre erste Frage zurückzukommen, sind die tausenden jungen Menschen, die auf die Straße gehen und für eine intelligentere Klimapolitik protestieren.

Interview mit Marina Delcheva, Wiener Zeitung, 15. 6. 2019.

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