Von Cornelia Grobner
Die Abrechnung beginnt mit einem kritischen Blick auf das Mittelklasseleben. In seinem vor wenigen Tagen erschienenen Buch, „Stadt, Land, Klima“, erzählt der Klimaökonom Gernot Wagner von seiner Kindheit im Amstetten der 1980er-Jahre. Wöchentlicher Fixpunkt waren die sonntäglichen Kaffeebesuche der Verwandtschaft im 75-Quadratmeter-Haus in der kleinen Vorortsiedlung – das ideale Zuhause für die damals vierköpfige Familie und guter Mittelklassestandard.
Mittlerweile jedoch, so Wagner, der an der New York University (USA) forscht, verlange ein Mittelklasseleben nicht nur nach der Urlaubsflugreise und dem komfortablen Auto, sondern auch nach einem entsprechenden Zuhause mit durchschnittlich 110 (Deutschland) bis 200 (USA) Quadratmetern samt Wintergarten, Weinkeller, Sauna und Pool. Das dazugehörige traditionelle Familienbild halte hier meist ebenfalls Einzug.
Als Klimaökonom beschäftigt er sich mit den relativen Kosten des Klimawandels und des Klimaschutzes, also mit Zahlen über Risken und Ungewissheiten. „Als Mensch frage ich mich: Was bedeuten diese Zahlen für mich persönlich?“ In seinem Buch führt Wagner nun diese beiden Bereiche zusammen. Es geht darin um die Einstellung zum täglichen Leben genauso wie um Architektur, Design und Technologie, aber auch um Mobilität, Raumplanung und Politik.Globale Sehnsucht Speckgürtel
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. Auf der Suche nach mehr Platz zieht es die Mittelklasse zunehmend in die Vororte und Vorstädte. „Der Traum ist australisch, südafrikanisch, südamerikanisch. Und er ist auch europäisch: Suburbanisierung, Speckgürtel und Zersiedelung gibt es auf der ganzen Welt“, so Wagner. Unterstützt wird dieser Wunsch nach einem Einfamilienhaus am Land von der Politik, wie die Steueranreize und Subventionen zeigen. Gleichzeitig, resümiert der Forscher nüchtern, sei der Vororttraum jedoch ein veritabler „Natur- und Klimakiller“. „Stadt selbst ist noch kein Garant für ein CO 2-armes Leben“, räumt er ein. Reichtum und Dichte eröffnen allerdings mehr Möglichkeiten, wie die autofreien Superblocks in Barcelona, der öffentliche Verkehr in Wien oder der kurze Takt der Schweizer Bahn beweisen.Wagners Buch ist ein Plädoyer für das Stadtmenschentum und nichtsdestoweniger eine Liebeserklärung an die Natur, eine Einladung zum individuellen Handeln und ein Denkanstoß für einen Systemwandel. Seiner Gratwanderung ist sich der Autor dabei bewusst. Ja, ein Stadtleben ist effizient. Warum auf 100 Quadratmetern leben, wenn es die Hälfte der Fläche auch tut? Warum ein Auto besitzen, wenn man mit dem Fahrrad schneller ist? Oder man geht zu Fuß zur Arbeit mit einem Frühstück to go in der einen und dem Handy in der anderen Hand. Der Morgenlauf könnte als Ersatz fürs Pendeln zum Arbeitsplatz genutzt werden. Das scheint auch gut für die Wirtschaft, eine Winwin- Situation – bestünde nicht die Gefahr, in Selbstoptimierung und Drill zu kippen.
„In der Realität stößt all diese Effizienz an Grenzen“, betont Wagner, dem es dabei nicht nur darum geht, dass man das Arbeitshandy am Freitag in die Schublade legen sollte, um am Montag mit mehr Elan in die Woche starten zu können: „Effizienz bedeutet viel mehr, als nur für den Moment aus weniger mehr zu machen.“ Es gehe um Balance. Und zwar nicht nur um die persönliche, sondern auch um die politische: In Sachen Umwelt- und Klimaschutz bedürfe es eines Mehr des Staates – sowohl mehr Steuern als auch Steuerung: Es könne nicht sein, dass Banken, Unternehmen oder Einzelpersonen Risken auf andere abwälzen und die Profite allein behalten.
Wagner, der als Mitglied eines Expertenstabs den New Yorker Bürgermeister zu Strategien gegen die Auswirkungen des Klimawandels berät, meint mit einem „Mehr an Staat“ auch mehr entsprechend subventionierte Innovationen. Und die Stadt nehme dabei eine bedeutende Rolle als Netzwerk und „Innovationskatalysator“ ein. Denn Stadt bedeutet für ihn nicht nur Effizienz, sondern ebenso Resilienz: „Sie verkörpert im Notfall das Auffangnetz.“ Das zeige die Coronakrise mit kreativen Pop-up-Straßenverkäufen, Click-and-Collect-Lösungen oder erweiterten Lieferdiensten einmal mehr. Resilienz kann freilich ebenso ganz anders aussehen, etwa in Form von Investitionen in die Infrastruktur, um sich gegen die Folgen des Klimawandels zu wappnen. „Auch das klappt in der Stadt meist viel leichter, als in dünn besiedelten Gebieten“, so Wagner.
“Traum oder doch Albtraum? Die Vorort-Idylle unter Beschuss,” Cornelia Grobner, Die Presse, 13. 2. 2021.