FAZ: “Größer denken, kleiner wohnen”

Von Winand von Petersdorff


Ein österreichischer Ökonom in New York praktiziert radikalen Klimaschutz in den eigenen vier Wänden. Mit Verzicht auf Wohnfläche, effizienten Küchengeräten und deutscher Wärmedämmung.
Gernot Wagner wohnt mit seinen zwei Kindern und 0seiner Frau Siripanth Nippita an der Bleecker Street in Lower Manhattan, in einem 70 Quadratmeter großen Apartment, für das die Eheleute 1,6 Millionen Dollar bezahlt haben. Der Washington Square ist nicht weit, und ein paar Blocks weiter südlich liegt Little Italy. Eine Galerie und ein Boxklub liegen an der Straße. Die Ecke ist cool, etwas abgeranzt – und teuer. New York eben.

Die Grundfläche ihres Lofts entspricht einem Drittel der Durchschnittsfläche neuer Einfamilienhäuser in Amerika und liegt auch deutlich unter der Fläche neuer Wohnungen. Bevor man allerdings in tiefes Mitgefühl ausbricht über die beengten Verhältnisse, muss gesagt werden: Die Familie hat das so gewollt.

“Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Welt retten” heißt der Untertitel des Buches “Stadt-Land-Klima“, das Wagner kürzlich veröffentlicht hat. Es zelebriert den urbanen Lebensstil als die klimagerechte Daseinsform. Wagner findet, die New Yorker können sich gratulieren. Ihr CO2-Fußabdruck ist nur halb so groß wie der der Vorstadtbewohner. Ihre Wohnungen sind klein, und sie haben kein Auto. Das spricht schwer für die New Yorker aus Wagners Perspektive. In seinem Gebäude wohnen sieben Parteien auf einer Wohnfläche, die in Vorstädten von Ein-Familien-Häusern beansprucht wird.

Gernot Wagner ist ein Klimaökonom, weshalb die Feststellung weniger fremd klingt, dass sein Loft im Kern das Ergebnis eines Optimierungsprojekts ist. Das Ziel ist es, Emissionen zu reduzieren, ohne zu darben. Denn das kleine Loft verrät auch schnell: Die Familie leistet sich schöne Dinge.

Weil er und seine Frau Professuren an der New York University haben, kam nur eine Wohnung infrage, die wenige Geh- beziehungsweise Fahrradminuten von ihren Arbeitsplätzen entfernt liegt. Die Familie wollte natürlich kein Auto haben. Für das vorgegebene Budget kamen wenige Objekte in Betracht. Wagner verblüffte Makler, die gewöhnlich so viel Quadratmeter wie möglich aus dem vorgegebenen Budget herausschinden, mit kalkulierter Genügsamkeit.

Die Familie hatte zuvor unter anderem in Cambridge gelebt, in einem Haus mit drei Schlafzimmern und einem Wohnzimmer. Doch sie lebte in der überwiegenden Zeit nur auf einem verschwindend kleinen Anteil der Fläche: “Wenn wir alle vier zu Hause waren, haben wir uns eigentlich nur in der Küche aufgehalten”, sagt Wagner. Sein Vater ist in einer 48 Quadratmeter großen Wohnung mit einem Dutzend Familienmitgliedern groß geworden, er selbst zusammen mit Geschwistern und Eltern auf 78 Quadratmetern. Irgendwie geht das auch.

Wer das Loft betritt, schaut zwangsläufig auf das Doppelbett der Eltern, das sich direkt am Eingang ausbreitet. Wie das nun einmal ist mit Lofts, gehört zu ihren Kerneigenschaften, dass sie keine Innenwände haben, außer jenen, die das Badezimmer vom Wohnraum abtrennen. Bildlich gesprochen: Man kann vom Ehebett den Küchentresen sehen und vom Esszimmerbereich das Ehebett. “Es hilft, dass die Kinder derzeit noch über 10 bis 12 Stunden pro Nacht fest schlafen”, merkt Wagner vielsagend an.

Der schweifende Blick bleibt automatisch an einem Fahrrad haften, das an der Wand hängt. Ein weiteres ruht zusammengefaltet in einer Box am Eingang. Fahrrad Nummer drei lehnt an einer Wand, und das vierte Modell, ebenfalls ein faltbares, ist mit der Frau des Hauses, einer Gynäkologin, unterwegs.

Die Fahrradverwahrung illustriert das erste Optimierungsproblem der Familie: wichtiges Zeug unterzubringen, ohne dass wertvoller Wohnraum vergeudet wird. In diese Kategorie gehören die in der Wand unweit vom Fahrrad verankerten Klappbetten für die Kinder, die Sohn Annan Nippita (zehn Jahre alt) mit Präzision und Effizienz aufbaut. Die Bettgestelle sind weiß getüncht und fallen hochgeklappt an der weiß verputzten Backsteinwand fast nicht auf. Links und rechts vom Etagen-Kinderbett ragen niedrige Schubregale in den Raum hinein, in deren Boxen die Kinder ihr Spielzeug verstaut haben. Das Volumen ist klein, gemessen an typischen Weihnachtswunschzetteln der Mittelschichtkinder aus Industrienationen. Lärmmanagement ist eine weitere Herausforderung in wandlosen Räumen, vor allem wenn pandemiebedingt die Kinder zu Hause online beschult werden. Gute Kopfhörer für alle sind die naheliegende Antwort. Auch das Elektroklavier kann stummgestellt werden. Die modernen Küchengeräte verrichten ihre Arbeit flüsternd, für den Espresso mahlt Wagner nicht nur die Bohnen per Hand, er presst ebenfalls manuell das heiße Wasser durch das Mahlgut. Stromsparen ist nicht der Hauptgrund. Die Kinder sollen morgens nicht zu früh aufwachen vom Kaffeeautomatenlärm.

Gernot Wagner hat vier Bücher geschrieben, in denen es vor allem darum geht, den Klimawandel mit den Werkzeugen der Ökonomie zu analysieren und Lösungen zu präsentieren, die die Erwärmung bremsen können. Sein jüngstes Buch, das in wenigen Tagen erscheint, heißt “Geoengineering – The Gamble“. Wagner hält es inzwischen für unausweichlich, dass die Menschheit Partikel in die obere Atmosphäre schießt, damit diese Sonnenlicht in den Weltraum reflektieren und deren wärmende Kraft weglenken. Wer in diesen Dimensionen denkt, glaubt nicht unbedingt daran, dass der Sparbeitrag einer klimabewussten Mittelschichtfamilie aus New York einen Unterschied macht.

Wagner ist aber auch ein Mensch, der mit seinen Emissionen nicht schuld sein will, wenn es zu heiß zum guten Leben wird. Deshalb also hat er sich einem besonders herausfordernden Unterfangen unterworfen. Er hat sich in die deutschen Passivhaus-Standards hineingelesen mit dem Zweck, seine Wohnung klimaneutral zu machen. Sie gelten als die strengsten der Welt. Wagner spricht als gebürtiger Österreicher Deutsch und kann deshalb mühelos Unworte wie “Wärmebrücke” entschlüsseln.

Allerdings lässt sich ein 200 Jahre altes Gebäude nicht ohne Widerstand ummodeln. Die Probleme fangen mit der Dreifachverglasung an, die in deutschen Neubauten Standard ist. In Amerika regieren doppelverglaste Schiebefenster, die zudem weniger hermetisch sind als die europäischen Drehkipp- Fenster. Wagner hätte seine deshalb gerne ersetzt. Sein Loft liegt allerdings in einem Co-op-Gebäude, einer in New York häufigen Eigentumsform. Mit dem Kauf hat die Familie ein Wohnrecht in ihrem Loft und einen Anteil an der Gemeinschaftsimmobilie erworben. Das Äußere der Außenwände inklusive Fenster bleibt im Eigentum der Co-op, die über neue Fenster das Sagen hat und zum Beispiel auf Einheitlichkeit achtet. Alle Eigentümer müssten neuen Fenstern zustimmen. Und dann wäre noch nicht einmal klar, ob die zuständige Denkmalkommission die Erneuerung genehmigt. Rollladen mit Solarantrieb, mit denen Wagner liebäugelte, hätten vor den Denkmalschützern keinen Bestand gehabt. Damit konnte Wagner auch eine einhüllende Fassadendämmung von außen zu den Akten legen.

Die Familie fokussierte sich dementsprechend auf ihr Loft, das direkt unter dem Dach liegt. Die Decke bestand aus einer 13 Millimeter dicken Rigipsplatte und sonst nichts bis zum Dach, das selbst stark reparaturbedürftig war. Fünf lecke Oberlichter, von denen zwei viele Jahrzehnte alt waren, leisteten ihren Beitrag zur hohen Energierechnung. Rund 20 000 Dollar investierte die Familie in die Isolierung der Decke mit ganz normalen Dämmplatten.

Einen noch größeren Unterschied machten aber laut Wagner die zwei intelligenten Oberlichter, die die fünf alten Fensterluken ersetzten. Sie werden mit Solarstrom betrieben und öffnen sich automatisch, um Temperatur, Luftfeuchtigkeit und CO2-Gehalt im Loft zu regulieren. Damit entsteht ein Luftaustausch, der für deutsche Passivhäuser typisch ist. New York subventioniert die kleinen Solaranlagen, die die Oberlichter öffnen und schließen.

Mehrere Tausend Dollar steckte die Familie in energieeffiziente Küchengeräte: Ein Kühlschrank von Liebherr, der Spüler von Miele und ein moderner Induktionsherd, der deutlich energieeffizienter als sein gasbetriebener Vorgänger ist. Schnell ist er auch, wie Wagner mit einem Wasserkessel nicht ohne Stolz präsentiert. Der Herd ist übrigens wie der Geschirrspüler mit Apps verbunden, beide Geräte können via Smartphone ferngesteuert werden. Beim Ofen ist ihm der Nutzen nicht ganz klar, beim Geschirrspüler zumindest theoretisch. Er könnte auch von unterwegs die Maschine anwerfen, wenn die Stromnachfrage gerade gering ist. Allerdings belohnt der Stromlieferant die Entlastung der Spitzenverbrauchszeiten nicht.

Die Anschaffung des neuen Herdes war nötig, weil Wagner die alte Gasleitung gekappt hat. Die neu verlegten Stromleitungen versorgen auch die Wärmepumpe auf dem Dach, die der Außenluft Wärme entzieht und diese in die Wohnung leitet. Dimmbare LED-Lampen ersetzten die Glühbirnen, weil sie steuerbar und energieeffizient sind.

Es ist gar nicht so klar, wie viel Geld die Familie in die rein energetische Sanierung des Apartments gesteckt hat, weil es natürlich nicht unbedingt teure Küchengeräte hätten sein müssen. Die Sanierung des Badezimmers war ohnehin nötig, um dort das Rohrsystem der Wärmepumpe zu verbergen. Aber sie haben es fliesen lassen mit exklusivem Rauriser Naturstein aus Österreich. Insgesamt sind es weit mehr als 100 000 Dollar geworden – inklusive einer besonders dichten einbruchsicheren App-gesteuerten Tür, für die man das Handy zum Aufschließen braucht.

Der Klimaökonom hat die monatliche Stromrechnung damit von 450 Dollar im schlimmsten Verbrauchsmonat 2019 auf ein Drittel reduziert. Der Ökonom in ihm rechnet vor, dass sich die Investition nicht amortisiert. Der Mensch ist aber nicht unzufrieden.

In seiner alten Heimat ist Gernot Wagner eine kleine Berühmtheit unter Eingeweihten. Seine Landsleute verstört er gerne mit Statistiken über den Bodenfraß durch Straßen. Österreich hat 15 Meter Straße pro Person, Deutschland weniger als zehn. Auch die fortschreitende Zersiedlung des Landes spießt er auf.

Wagners aktuelle Sorge richtete sich zuletzt gleichwohl auf Profaneres: Das Badezimmer sollte rechtzeitig fertig werden, weil sich großer Besuch angekündigt hatte. Österreichs klimasensibler Bundespräsident Alexander Van der Bellen kam zur Sitzungswoche der Vereinten Nationen nach New York und nutzte die Leerzeiten, um Landsleute aufzusuchen, darunter Gernot Wagner. Am Donnerstagnachmittag drängten der Präsident, sechs Delegationsmitglieder, zehn mitreisende Journalisten und drei Sicherheitsleute ins Loft. Man sprach unter anderem über eine ökosoziale Steuerreform, die Van der Bellen mal entwickelt hat, als er noch Parlamentsabgeordneter war. Der Nachmittag verlief gut, Nervosität kam nur auf, als der amerikanische Personenschützer die Tür nicht öffnen konnte. Wagner musste sein Handy zücken, um die Tür zu entriegeln.

Es sollte noch erwähnt werden, dass die Familie vegetarisch lebt, keinen Fernseher hat und einen kranken Hund namens Finn aus dem Tierheim adoptiert hat. Sie sind Menschen, die das Richtige tun wollen. Anzumerken ist schließlich, dass die Familie weder Waschmaschine noch Trockner hat. “Wir bringen unsere Wäsche zu Ranjha Mott, 90 Gehsekunden entfernt.” Morgens weggebracht, kommt die Wäsche abends gefaltet zurück. “Der Grund ist einfach: Platz hier ist knapp, Zeit auch. Weder meine Frau noch ich haben irgendwie einen komparativen Vorteil beim Wäschewaschen”, sagt er, der Klimaökonom.

Größer denken, kleiner wohnen“, Winand von Petersdorff, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26. September 2021

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