Stadt, Land, Kompromiss

In der Stadt leben? Oder auf dem Land? Wo fühlen wir uns wohler? Zur ARD-Themenwoche "Stadt. Land. Wandel." Essay von Gernot Wagner, gelesen von Tarek Youzbachi

Da ist einerseits die Stadt, der Ort, geprägt von Vielfalt, von Abwechslung, vom täglichen Geschehen. Aber es geht natürlich nicht nur um den Ort, der Ansammlung dicht bebauter Parzellen, des Wohnens im Wohnhaus. Es geht vielmehr um die Idee Stadt, um die Einstellung.

Stadtmenschen gibt es überall. Stadt daher auch. Stadt ist etwa, wenn sowohl der Barista in meinem Lieblingscafé als auch der freundliche Obdachlose, der oft vor der Tür anzutreffen ist, meinen Namen kennt, und wenn ich ebenso weiß, dass der Obdachlose seinen großen schwarzen Kaffee am liebsten mit zwei Löffeln Zucker nimmt.

Stadt ist gelebte Spontaneität, vollkommene Gelassenheit. Stadt ist, am Samstag mein Mobiltelefon zu Hause zu lassen, mit zwei Kindern und ihren Scootern noch vor dem Frühstück in eine Richtung loszumarschieren und erst nach dem Abendessen wieder nach Hause zu kommen.

Stadt ist, am Samstagabend spontan der zweiten Hälfte eines Symphoniekonzertes zu lauschen – und zwar kostenlos, weil mir ein Pärchen, das schon während der Pause nach Hause ging, etwas amüsiert die Karten übergab: „Viel Spaß!“

Stadt ist gelebte, kompromisslose Effizienz. Stadt ist, einen ganzen Monat lang im 15-Minuten-Radius zu arbeiten und zu leben, ohne sich währenddessen jemals bewusst in seiner Mobilität eingeschränkt zu haben. Stadt ist, vom Allerwichtigsten jeweils nur ein Stück zu besitzen – und manchmal auch noch weniger. Wer braucht schließlich eine eigene Waschmaschine, wenn die Wäscherei 90 Gehsekunden von zu Hause entfernt ist und das Waschen, Trocknen und Falten viel besser – effizienter – kann, als meine Frau und ich es jemals selbst tun könnten.

Es ist genau diese Effizienz, die Stadt so lebenswert – und so klimafreundlich – macht: mehr Lebensfreude, mehr Wohlergehen mit weniger Input. Halb so viele CO2-Emissionen als im Einfamilienhaus am Stadtrand. Stadt bedeutet vor allem: weniger Platz in Anspruch zu nehmen. Klar, wer kann sich schon mehr als die 70 Quadratmeter leisen? Nicht Stadtmenschen, nicht in der Stadt. Und das ist gut so.

Schließlich ist es die Stadt die genau das Gegenteil erst möglich macht.

Ohne Stadt kein Land.

Land – wirkliches Land – ist Ruhe. Land ist Sehnsuchtsort. Land ist Poesie, Meditation, das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Baches. Land ist vollkommene Stille, Vielfalt, Leere. Land ist, ein gutes Buch zu lesen – oder auch gar kein Buch, keine Nachrichten, keine Sorgen. Land ist das Glas Wein, die Musik, die Tradition.

Land ist, am letzten Schul- und Arbeitstag das Handy und alle anderen elektronischen Geräte in der Wohnung zurückzulassen und ab nun einfach die Tage zu zählen, vielleicht mithilfe eines Blattes Papier und eines Bleistifts, um sicherzugehen, dass man am letzten Ferientag wieder in die Stadt zurückkehren wird.

Land ist Ausgleich, Balance, Ressource und Erholungsort, Energiequelle für Mensch und Natur.

Ohne Land keine Stadt.

Land ist übrigens tatsächlich das: Land. Natur. Wald, Wiesen. Wirkliches Land eben. Auf dem Land vom Land zu leben.

Land in etwa ist nicht der Vorort, die Vorstadt, die 3×6 Parzellen große Ansammlung von Einfamilienhäusern, fast egal wo diese liegen mag. Das ist zugleich der wahre Kompromiss, das Dazwischen – zwischen Stadt und Land. Nah genug am Geschehen, aber dann doch im eigenen Einfamilienhaus wohnen. Nicht ganz Stadt, nicht ganz so teuer, aber immer noch nah genug für die monatliche Fahrt ins Kino, oder vielleicht ins Kabarett oder Theater. Kultur gehört nun mal dazu – Hochkultur für die, die es sich leisten können und wollen. Das London Symphony Orchestra kommt schließlich nur einmal im Jahr vorbei, und ein bisschen Vivaldi hat noch niemanden geschadet.

Aber der Abend in der Stadt wird Wochen im Vorhinaus geplant. Schließlich ist es nicht rund ums Eck, wenn man da im Speckgürtel festsitzt. Ans Auto gebunden ist man auch, einschließlich der CO2-Emissionen, die mit einem großen Haus und einem großen Auto, oder zwei, so einhergehen.

Tatsächlich sind die CO2-Emissionen im Umland doppelt so hoch wie in der Stadt. Sie sind auch in etwa doppelt so hoch wie am wirklichen Land. Der Wohnkompromiss im Dazwischen macht auch das Klima zum Kompromiss, die Natur ohnehin. Wirklich „grün“ ist hier nur der Rasen, und das auch nur farblich.

Klar, ganz ohne dieser Einfamilienhäuser am Stadtrand scheint keine Stadt auszukommen. Aber: das Umland hat tatsächlich ihre ganz eigenen Probleme.

Das Phänomen des „Bowling Alone“ – des „Alleine zu kegelns“ – beschrieben von Harvard Politologen Robert Putnam, ist ein rein suburbanes. Sowohl in der Stadt als auch auf dem Land gibt es das kaum. Einsiedlertum einmal ausgenommen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist im kleinen Dorf unumgänglich: Wenn sich alle kennen, ist anonym zu sein schwer. In der Stadt mag Anonymität zwar einfacher sein, doch alleine zu kegeln ist ebenfalls selten. Anderen zu begegnen, lässt sich hier kaum vermeiden.

Im großen Einfamilienhaus in Vorort oder Vorstadt hingegen kann man sich viel leichter dem Rest der Welt verschließen. Das städtische Freibad wird durch den Pool im eigenen Garten ersetzt, die abendliche Kegelrunde durch den eigenen Spielkeller, der Gang zum nächsten Café durch Einweg-Kaffeekapseln. „Soziale“ Netzwerke findet man im Internet.

Am Ende geht es aber beim Drang, im Umland zu wohnen, vor allem um eines: um Quadratmeter. Oder besser gesagt: den Drang nach mehr eben dieser.

Wie die amerikanischen McMansions zeigen, gibt es dabei scheinbar keine Obergrenze. Die aktuell 200 Quadratmeter Durchschnitt pro amerikanischer Familie scheinen nur eine Zwischenstation zu noch mehr zu sein, die 110 Quadratmeter deutscher Durchschnitt ebenso. In Australien sind es mittlerweile über 230 Quadratmeter. Tendenz weiter steigend.

Gesellschaftliche Normen spielen eine große Rolle. Wirtschaftliche Faktoren ebenso: Die Bank verkauft gerne den größeren Kredit, der Makler gerne das größere Haus, von der Autofirma und dem zweiten, größeren Auto einmal ganz abgesehen. Und ja, auch der Scheidungsanwalt bevorzugt größere Häuser.

Wo wie zu leben ist vielleicht die wichtigste Entscheidung überhaupt. Und nein, nicht Hamburg oder Berlin. Auch nicht wirklich die Entscheidung zwischen Land und Stadt. Die oft wirklich entscheidende Frage ist Stadt oder Stadtrand, zentral oder im Speckgürtel, Fahrrad und Bahn oder das eigene Auto.

Ebenso wie mehr Quadratmeter sind auch längere Pendelzeiten gesellschaftliche Norm. Wie hört man schließlich sonst Radio, wenn nicht im Auto?

Über längere Strecken zu pendeln, um der Familie ein größeres Haus bieten zu können, gilt dabei oft als noble Aufopferung, ebenso wie die Entscheidung, den besser bezahlten, aber ansonsten kaum erfüllenden Job als strategischer Umstrukturierungsberater überhaupt anzutreten: „Ich fahre täglich eine Stunde in die Stadt, aber dafür haben wir einen Garten mit Pool und ein eigenes Gästezimmer!“ Dass die Elfjährigen dabei viel lieber ins örtliche Freibad als in den eigenen Pool geht, darin stand in der Schwimmbad-Broschüre freilich nichts.

Aber genug mit dem Speckgürtel. Wer die Wahl hat wählt anders. Oder vielleicht doch nicht?

Am leichtesten ist es freilich das zu tun, was „man“ eben so macht: Eine Jungfamilie zieht in den Speckgürtel ins neu errichtete Einfamilienhaus. So sagen es die Immobilienbroschüre, das Kreditangebot der Bank und die Autowerbung sowieso.

Die Alternative? Aktiv wählen. Die Anzahl der Quadratmeter wird dann nicht mehr von Broschüren und Werbefantasien bestimmt, sondern von den eigenen Präferenzen, der eigenen Erfahrung mit verschiedenen Lebenssituationen.

Plötzlich werden Quadratmeter optimiert anstatt maximiert.

Plötzlich springt auch die Politik ein und schafft etwa die Pendlerpauschale ab, um weiterer Zersiedlung Einhalt zu gebieten.

Plötzlich verschwinden Gratisparkplätze in der Stadt. Schließlich macht der somit gewonnene Grünraum Städte selbst attraktive.

Plötzlich realisiert man, dass der einfachste Weg zur Erreichung der Klimaziele sowohl durch Stadt als auch das Land führt, aber eben nur durch diese.

Gernot Wagner ist der Autor von „Stadt, Land, Klima“, erschienen im Brandstädter Verlag.

Stadt, Land, Kompromiss” von Gernot Wagner, NDR Gedanken zur Zeit, 13. November 2021, 13:00 Uhr (Spr. Tarek Youzbachi)

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