Stadt, Speckgürtel, Land
Gernot Wagner stammt aus Amstetten und ist Klimaökonom an der New York University. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern auf 70 Quadratmetern in Manhattan – aus Überzeugung. Anna Heringer ist Architektin mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Dorf in Bayern an der Grenze zu Salzburg in einem Mehrfamilienhaus – ebenfalls aus Überzeugung. Stadtleben und Landleben sind nach Meinung der beiden mit einem klimaschonenden Lebensstil vereinbar. Bei Suburbia haben sie ihre Zweifel.
Wagner blickt vom Balkon im sechsten Stock des ORF-Zentrums auf Wien. Die wichtigste Entscheidung im Leben junger Menschen sei, wo man leben wolle, sagt er im Interview mit ORF.at. Ob man etwa Fleisch esse oder nicht, das könne täglich revidiert werden. Die Entscheidung, sich in der Stadt, auf dem Land oder in Suburbia niederzulassen, würden die meisten jedoch fürs ganze Leben treffen. Und diese Entscheidung beeinflusse unseren CO2-Abdruck maßgeblich, für Jahrzehnte.
Verzicht oder Freiheit
Mit der Stadt verbindet Wagner vor allem ein Wort: Effizienz. Wer auf kleinem Raum lebt, verursacht weniger CO2-Ausstoß als jemand, der über viel Wohnraum verfügt. Und wenn alles, was man braucht, in unmittelbarer Umgebung ist, braucht man kein Auto: „Möchte ich die Freiheit, mich ohne Auto bewegen zu können und überall hinzukommen, wo man in einer Stadt leicht hinkommt? Oder möchte ich ans Auto gebunden sein mit 200 Quadratmetern in Suburbia?“Für ihn ist die Antwort klar. Einen eigenen Garten mit Plastikklettergerüst habe man in der Stadt nicht, dafür mehrere Spielplätze im Umkreis weniger Gehminuten. Dass das ein Verzicht ist, lässt er nicht gelten, im Gegenteil, er empfindet es als Freiheit, am Sonntagnachmittag nicht den eigenen Rasen mähen zu müssen, sondern eine ganze Stadt vor sich zu haben, mit all ihren Möglichkeiten.
Doppelter CO2-Abdruck im „Vorortefleckerlteppich“
Und wenn man Sehnsucht nach Natur habe, nach richtiger Natur, dann könne man am Wochenende mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad noch immer aufs Land fahren. In Wagners idealer Welt beginnt das Landleben nämlich direkt an der Stadtgrenze. Ginge es nach ihm, gäbe es das Dazwischen nicht, die Vorstadt und den Speckgürtel. Nur dicht verbaute Stadt auf der einen Seite und Dorfleben auf der anderen Seite, aber keinen „Vorortefleckerlteppich“.Wagner hat erst unlängst mit seinem Buch „Stadt Land Klima“ einen Bestseller gelandet, Untertitel „Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten“. Konzis rechnet er darin vor, gespickt mit zahlreichen Anekdoten aus seinem eigenen Leben, dass das Leben in der Stadt und das Leben auf dem Land einen gleich großen ökologischen Fußabdruck bedeuten, das Leben in Suburbia jedoch einen doppelt so hohen, nicht nur wegen des Pendelns.
„Einfamilienhaus wirklich passe“
Das hat auch damit zu tun, dass Menschen auf dem Land tendenziell über geringere finanzielle Mittel verfügen als im Speckgürtel. Wer weniger konsumiert, verbraucht weniger CO2. Wer mehr Geld hat, mehr konsumiert und nur für sich und seine Familie ein großes Haus baut, viel mehr. Das soll aber keine grundsätzliche Kritik am Landleben sein – auf das Wie kommt es an. „Am Land leben, vom Land leben ist super“, so Wagner. „Mein Buch ist eine Liebeserklärung an die Stadt, eine ans Klima, aber auch eine ans Land.“Ins selbe Horn stößt Architektin Heringer: „Leben am Land, das muss ja nicht heißen, das Einfamilienhaus auf der grünen Wiese. Das ist wirklich passe. Das ist einfach nicht nachhaltig.“ Das beginnt schon mit den Materialien, die verbaut werden. Es sei ein Fehler im System, so Heringer, dass wenig nachhaltige Baumaterialien billiger seien als ökologische: „Wenn wir in einen Neubau hineingehen und sagen: ‚Mmm, da riecht es neu‘, das nehmen wir als gegeben hin. De facto ist das toxisch.“
Lehmbau aus eigener Hand
Im Gegensatz dazu sei Lehm als Baustoff sowohl gesünder als auch nachhaltiger, weil er ohne Rückstände abbaubar sei – und noch dazu überall auf der Welt im Überfluss vorhanden. Lehm ist Heringers Leidenschaft. Das Interview mit ORF.at findet im Architekturzentrum Wien statt, in der Ausstellung ihrer Freundin Tatiana Bilbao, einer mexikanischen Architektin. Dort werden verschiedene Wohnformen und Materialien greifbar, im Wortsinn. Heringer streicht mit ihrer Hand über eine eigens aufgestellte Lehmwand.In einem preisgekrönten Schulbauprojekt im ländlichen Bangladesch hat Heringer bewiesen, dass das geht: gemeinsam mit der Community an Ort und Stelle, sogar mit Kindern, ein Lehmhaus bauen – mit den eigenen Händen. Heringer strahlt, wenn sie davon erzählt. Ihre Erfahrungen, sagt sie, sind auf Länder wie Deutschland und Österreich übertragbar, auch was den Community-Aspekt betrifft.
Aus der Traum vom Eigenheim?
Ähnlich wie Wagner seine 70-Quadratmeter-Wohnung in der Stadt empfindet sie es nicht als Verzicht, zwar auf dem Land, aber in einem Mehrfamilienhaus zu leben. Anstatt mit ihrer Tochter alleine im eigenen Garten zu sitzen oder auf einen Spielplatz gehen zu müssen, besuchen die beiden das gemeinsame Spielzimmer im Haus, wo immer auch schon andere Kinder warten. Und es brauche auch nicht jeder einen eigenen Hobbykeller oder Gästezimmer. Das könne man teilen. Zudem stemmt man gemeinsam die Kosten für nachhaltiges Bauen und Wohnen leichter.Zusammengefasst könnte man mit Wagner und Heringer sagen: Wer nachhaltig leben will, lebt entweder in einer kleinen Wohnung in der Stadt oder in einem Ökomehrfamilienhaus auf dem Land – und jedenfalls ohne eigenes Auto. Was vielen immer noch als der große Traum vom gelungenen Leben erscheint, sollte demnach möglichst bald der Vergangenheit angehören: das neue, große Einfamilienhaus mit eigenem Garten und zwei Autos, mit denen in die Stadt gependelt wird.
Simon Hadler (Gestaltung, Text), ORF.at
“Wo man wirklich „öko“ leben kann“, Simon Hader, ORF.at, 18. October 2021