Die Presse: “Harvard war billiger als Wien”

Gespräch mit Hellin Jankowski

Klimaökonom Gernot Wagner im Wiener Stadtpark (c) Presse/Clemens Fabry

Er ging mit 16 in die USA – und blieb. Heute lehrt der Klimaökonom Gernot Wagner in New York, schreibt über „Klimaschock“ und „Solares Geoengineering“ und hat einige Ideen, wie Österreichs Unis sich verbessern könnten.

Hellin Jankowski: Via Ihrer Webseite bieten Sie 20-minütige Treffen oder 40 Minuten Joggen an. Sie sind vor einer Stunde in Wien gelandet. Wären Sie lieber laufen gegangen?

Gernot Wagner: Ehrlich, keine schlechte Idee. Mein Pensum an Sprechstunden ist sehr klein. Als ich an der New York University unterrichtet habe, wohnte ich 90 Sekunden vom Büro weg. Viele Studierende wohnten ähnlich nahe. Daher sind wir laufen gegangen – in 40 Minuten gehen sich Klimadebatten, Rat für Abschlussarbeiten und Nachfragen zu what so ever aus. Jetzt lehre ich an der Columbia, da sind die Studentenheime etwas weiter weg, also laufe ich meist mit meiner Frau.

Und diskutieren mit ihr?

Absolut. Wir laufen um 6:15 Uhr in der Früh. Wir nennen es unser tägliches Date, wo wir alles besprechen – oder fast alles, denn unser Hund ist auch dabei und hört mit. (lacht) In der Zwischenzeit wachen die Kinder auf, spielen Klavier und sind fertig, wenn wir nach Hause kommen.

Dank der Nanny?

Nein, wir hatten Au-pairs, heute schaffen sie das selbst: Sonja ist neun, Annan zwölf Jahre alt.

Das klingt sehr vorbildlich, sehr diszipliniert.

Wir haben eine von Montag bis Freitag im 15-Minuten-Takt durchgeplante Woche: Meine Frau ist Gynäkologin, unsere Kinder gehen in die Schule, Sonja spielt dazu Fußball, Annan geht schwimmen. Ich unterrichte, halte Vorträge. Ohne Plan geht das nicht.

Sie sind 1998 in die USA gegangen – und geblieben. Warum haben Sie sich für diesen Schritt entschieden?

Ich war ein großer Streber, nur in Englisch hatte ich keinen Einser. Meine Lehrerin am Gymnasium in Amstetten hat mir damals gesagt, ich würde die Sprache nie richtig sprechen. Also wollte ich unbedingt Sprachferien machen, doch es stellte sich heraus, dass zwei Wochen in England so viel kosten wie ein Semester in den USA. In der 7. Klasse ging ich daher für ein Semester nach Minneapolis, daraus wurde ein Jahr.

Mittlerweile sind es 25 Jahre.

Mein Japanischlehrer in der High School war ein Harvard-Absolvent und hat mir erklärt, wie man sich dort bewirbt – das habe ich von Amstetten aus getan. Ich habe mich dummerweise nur an einer Uni beworben, eigentlich bewirbt man sich in Amerika an gut 30. Ich bin reingekommen – das war’s.

Welchen Trick haben Sie angewandt?

Ich weiß nicht, ob es ein Trick war, aber es braucht sehr gute Noten, die richtigen Worte im Bewerbungsaufsatz und Tests – ACT, SAT. Das Wichtigste ist aber, wie die Person tickt: von Klassensprecher bis Sieg bei den niederösterreichischen Waldjugendspielen; solche Späße halt.

Wie erging es Ihnen mit der Sprache?

Ich fing im Kurs für Nicht-Englischsprachige an und habe das erste Jahr als Klassenbester des Advanced Placement-Kurses beendet. Ich denke, mein Englisch war nach dem Jahr ganz okay.

Sollte jeder und jede im Ausland studieren?

Ein Semester sollte quasi Pflicht sein, der Prophet gilt im eigenen Land bekanntlich nichts. Aber Ausland ist nicht gleich Ausland: Ich war nie im „richtigen“ Amerika, in Suburbia hätte ich nicht überlebt. Ich war in Cambridge, in New York – das sind sozusagen die Schweiz und das Skandinavien der USA.

Sie meinen, im teuersten Teil des Landes?

Mein Harvard-Studium war billiger als ein Studium in Wien: Die Studiengebühren inkludieren 21 Mahlzeiten pro Woche, eine Winterjacke und ein Gratis-Laptop – meinen ersten Computer. Es gab einen Fonds für Fracks, damit die ärmsten Studenten auch auf Bälle gehen können.

Dass man nur verschuldet einen Abschluss an den Top-Unis Amerikas machen kann, ist somit eine Mär?

Jein. Theoretisch kostet das Studium an Harvard 60.000 bis 80.000 Euro, das bezahlen aber nur 30 Prozent – daran sieht man, wie viel Geld die haben. Alle anderen bekommen Stipendien.

Was ist in Harvard oder Columbia besser als in Wien?

Vorweg: Österreichs System, dass jeder nach der Matura studieren kann ist fantastisch. Aber: Deswegen sind die Klassen auch viel größer. In Harvard sitzen zehn, zwölf Leute in einer Klasse und diskutieren, in Wien sind 750 im Audimax.

Sollte man Studiengebühren einführen, um mehr Geld zu haben – und flächendeckende Aufnahmetests?

Das könnte Teil der Lösung sein. Sicher ist, dass in den USA viel stärker evaluiert wird, in beide Richtungen: Jeder Prof wird von den Studierenden bewertet, das schafft Transparenz darüber, wer agil bleibt und wer im Klassenzimmer fad dreinschaut.

Solche Evaluierungen lassen sich beeinflussen.

Das ist tatsächlich ein Problem. Es gibt sogar Studien darüber, um wie viel besser jemand bewertet wird, wenn er am Tag X Gratiskaffee und Donuts mitbringt. An der Columbia ist so etwas jetzt verboten. Der Punkt ist: Es geht um Engagement – an der Columbia geht der Uni-Präsident mit StudentInnen laufen. Ich kenne keinen Professor in Wien, der mit Studierenden um 6 Uhr laufen geht.

Ich auch nicht.

Ich verrate Ihnen etwas. Der Ökonometriker Dale Jorgenson (1933-2022, Anm.) ließ sich beim Vortragen filmen, da war er schon über 70. Dann setzte er sich mit Zwanzigjährigen zusammen, die ihm erklärten, was er besser machen könnte. Er war eine Koryphäe, das hätte er nie nötig gehabt, aber er hat es trotzdem gemacht.

Wie kommt man zu so einem Mindset?

Das ist der Knackpunkt. Incentives spielen bestimmt eine große Rolle, aber vielleicht geht es vor allem um Mut? Sich etwa als Professor nicht vor Diskussionen mit den Studierenden zu scheuen. Aber man muss auch sagen, es gibt da wie dort Profs who are checked out. Das große Ziel ist ein Lehrstuhl, dann geht’s ab ins Consulting.

Es mangelt also an Konkurrenz?

Die Unantastbarkeit der Professoren ist bestimmt da wie dort ein Problem, auch fehlende Fortbildungen. Und Zusatzaufgaben: Ich vergeude auch zu viel Zeit in Komitees, wo geredet und Kaffee getrunken wird.

Sie haben sechs Bücher geschrieben, publizieren in der „New York Times“ und der „Washington Post“ und lehren an der Columbia University – wäre diese Karriere möglich gewesen, hätten Sie in Österreich studiert?

Glaube ich nicht – schon wegen der Bürokratie: Als ich mich an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften um ein Stipendium beworben habe, wurden meine drei Harvard-Abschlüsse nicht anerkannt. Die Diplome mussten erst von Englisch und Latein auf Deutsch übersetzt und notariell beglaubigt werden. Viel Glück dabei. Zudem bin ich Klimaökonom, das war vor 20 Jahren ein Oxymoron. Die Leute haben gefragt: „Was bist du nun: Ökonom oder Klimaschützer?“ Heute weiß man rund um den Erdball Bescheid.

Apropos Erdball: Wie groß ist Ihr CO2-Fußabdruck?

Der Durchschnittsamerikaner gibt 16 Tonnen aus, der Durchschnittseuropäer acht, ich bin Doppelstaatsbürger also liege ich bei 24. (lacht) So geht es natürlich nicht. Aber: Wir wohnen zu viert in einer 70 Quadratmeter großen Wohnung, ohne Auto und Führerschein, wir sind Vegetarier. Das große Minus kommt vom Fliegen. Da bin ich in der glücklichen Lage, es kompensieren zu können, nicht mit Bäumen um zehn Euro in zehn oder mehr Jahren, sondern mit Sustainable Aviation Fuels – Treibstoff aus nicht-fossilen Rohstoffen. Die kosten verdammt viel, um die 600 Euro für den Flug von New York nach Wien und retour. Okay, heißt das jetzt, dass ich CO2-neutral unterwegs bin? Jein. Aber um einiges besser. Wir alle sollten damit fliegen – per Gesetz.

Das gibt es doch bereits.

Teils, Kerosin ist immer noch von der Mehrwertsteuer befreit und somit etwa verglichen mit der Bahn höchst subventioniert. Aber, bis 2050 müssen auch internationale Fluglinien ihre CO2-Emissionen auf Netto Null senken. Trotzdem: Schon jetzt muss der Einzelne was tun.

Mit höherer CO2-Bepreisung und weniger Wohnraum?

[Print:] Sie sagen es! Jede und jeder soll natürlich für die eigenen, externen Effekte bezahlen. Das heißt, CO2 radikal reduzieren und den Rest kompensieren. Das heißt auch, zu hinterfragen, wo wir wie wohnen. Und da ist das kompakte Leben in der Stadt tatsächlich ein Teil der Lösung. Ebenso toll: am Land vom Land wohnen. Das dazwischen – das Einfamilienhaus im Tullnerfeld – ist das wirkliche Problem. [Ende Print]

[Online:] Sie sagen es! Jede und jeder soll natürlich für die eigenen, externen Effekte bezahlen. Das heißt, CO2 radikal reduzieren und den Rest kompensieren. Und: Österreich muss den Passus aus dem Staatsvertrag streichen, der jedem ein Einfamilienhaus im Tullnerfeld garantiert.

In ihrem neuen Buch „Und wenn wir einfach die Sonne verdunkeln“ überlegen Sie, ob solares Geoengineering einen Beitrag leisten könnte. Also die Idee, mithilfe von Aerosolen die Sonneneinstrahlung zu verringern.

Punkt eins: Es ist keine Lösung, denn es attackiert nur Symptome, nicht das Problem selbst. Wie wenn man ein Schmerzmittel nimmt, anstatt auf Diät zu gehen und Sport betreiben. Das heißt: Ja, mit Aerosolen in der Stratosphäre ließe sich die Temperatur auf der Erde verringern und teils stabilisieren, aber es hilft nichts: Wir müssen raus aus fossilen Brennstoffen, hin zu Erneuerbaren, Wärmepumpen, Rad und Bahn. Das ist alles nicht neu.

Klingt aber trotzdem wie eine politische Ansage.

Ich habe keine politischen Ambitionen, daher sage ich, was Fakt ist. Und zwar: Es gibt immer Zielkonflikte, aber wir müssen dringend mit der uns bekannten Technologie das Beste machen. Das gilt vor allem für die reichen Nimbis – Leute, die sagen: Ja, er hat recht, das sollte man tun, aber „nicht bei mir“.

Steckbrief

Gernot Wagner (*1980) ist gebürtig aus Eggersdorf/Amstetten. Seit 1998 lebt der Klimaökonom in den USA. Nach einem Schul-Austausch in Minneapolis mit 16 studierte er in Harvard und Stanford. Er arbeitete für die „Financial Times“, die Boston Consulting Group und die Umweltorganisation EDF.

2016 publizierte Wagner mit Martin L. Weitzman das Buch „Klimaschock“.

Von 2011 bis 2016 lehrte er an der Columbia University, von 2016 bis 2019 in Harvard.

Seit 2022 lehrt und forscht der verheiratete Vater zweier Kinder an der Columbia Business School. Ebenfalls 2022 wurde er zum „Österreicher des Jahres“ gekürt.

Original-Artikel: “Mein Harvard-Studium war billiger als ein Studium in Wien“, Gespräch mit Hellin Jankowski, Die Presse (26. März 2023). [Print-Headline: “Harvard war billiger als Wien”]

Up Next

Der Standard: “Ein Leben ohne Grundbesitz ist möglich”

von Bernadette Redl

More Blog

Keep in touch.