Die Presse: „Die Verbauung muss stoppen“

Gespräch mit Christine Imlinger

Interview in der österreichischen Tageszeitung Die Presse.

Klimaökonom Gernot Wagner erklärt, warum nur das Leben in Städten (oder ganz am Land) das Klima retten kann, warum er hofft, dass rund um Wien kein zweites Tullnerfeld entsteht und, welchen CO2-Preis er für sinnvoll hält.

Die These Ihres neuen Buches lautet, in urbanen Zentren und am „echten“ Land lebt man klimaverträglich, nicht aber in Suburbia, in den Vorstädten. Sie stammen aus Amstetten, leben in New York. Wo lebt es sich klimafreundlicher?
Gernot Wagner: Einfach, als New Yorker in Amstetten. Der Durchschnittseuropäer verursacht ungefähr die Hälfte der Emissionen eines Durchschnittsamerikaners. Land der Berge, Land am Strome: 60 Prozent der Elektrizität kommt aus Wasserkraft, die Emissionen in Österreich sind um einiges geringer. Das zeigt, worum es eigentlich geht.

Worum geht es Ihnen?
Es geht um Systeme, um Emissionen im Großen. Es geht viel weniger um Europa gegen die USA oder New York gegen Wien, es geht darum, dass das Leben in der Vorstadt, egal auf welchem Kontinent, mindestens doppelt so viele CO2-Emissionen verursacht wie das Leben in der Stadt und das wirkliche Leben am Land. Am wirklichen Land lebt natürlich kaum wer. Die meisten leben im Dazwischen, in Vorstädten, Schlafstätten, Vororten, Satellitenstädten, in Suburbia.

Was macht diese Vorstädte so klimaschädlich? Das Pendeln?
Mobilität und Abhängigkeit vom Auto gehen meist Hand in Hand, zusätzlich sind es die Quadratmeter, die neben dem Problem der Versiegelung auch mehr CO2-Emissionen zur Folge haben. Vororte, Vorstädte heißen „kompromissloses“ Leben. Man lebt nahe der Stadt, aber im großen Haus. Der Kompromiss ist die Umwelt.

Gibt es klimaschonendes Leben in Suburbia? Wenn man per Zug pendelt, eigenen Solarstrom produziert, E-Auto fährt usw.?
Natürlich, Technologie hilft immer. Elektroautos, Solarstrom, Isolierung nach Passivhausstandard helfen, das Klimaproblem zu lösen, der Flächenverbrauch bleibt aber. Flächenverbrauch geht mit Klimaschutz einher, es gibt also keine komplett technische Lösung. Aber Vorort ist nicht gleich Vorort. Baden, von wo seit einem Jahrhundert die Bahn nach Wien fährt, ist anders als Orte, die man öffentlich nicht erreicht. Vieles hängt vom Einzelnen ab: Wenn ich in einem kleinen Ort oder einer Vorstadt zentral lebe, zu Fuß oder mit dem Rad einkaufe, so die Kinder irgendwohin bringe, zum Bahnhof fahre, mit dem Zug pendle, kann man auch dort mit einer sehr städtischen Einstellung leben. Das geht überall, leichter aber in der Stadt.

Das dörfliche, „echte“ Landleben, von dem Sie schreiben, gibt es das so überhaupt noch? Gerade auf dem Land sind doch Abhängigkeit vom Auto, Zersiedelung und Verbauung am größten.
Natürlich, das heutige Landleben hat mit der idyllischen Vorstellung sehr, sehr wenig zu tun. Kaum jemand lebt in Österreich in einem Ort im Zentrum, die meisten leben in einem Einfamilienhaus, in einer Situation, in der es schwierig ist, wirklich auf dem Land vom Land zu leben. Im Prinzip lebt man auch im Tiroler Tal wie in Suburbia, Österreich ist klein, man kommt überall schnell hin, kann abgelegen wohnen und in der Stadt arbeiten. Das geht mit Pendeln, einem Haus, viel Flächenverbrauch, vielen Straßenkilometern einher. Österreich hat fünfzehn Kilometer Straße pro Einwohner, fast doppelt so viele wie Deutschland oder die Schweiz.

Der Flächenverbrauch ist lang gewachsen. Von Generation zu Generation bewohnt jede Person mehr Quadratmeter als zuvor. Muss sich das ändern?
Ja. Wir verbauen Österreich, alle zehn Jahre wird die Fläche Wiens versiegelt, natürlich muss das aufhören. Aus Klimaschutzgründen, auch die EU hat das Ziel, bis 2030 mindestens 30 Prozent aller Flächen zu schützen, also nicht zu bebauen. Das geht nur, wenn der Flächenversiegelung Einhalt geboten wird. Auf individueller Ebene hieß es lang, mehr ist immer besser. Und jeder verdient, wenn das Haus größer ist: der Immobilienmakler, die Bank, die Baufirma, bis hin zum Scheidungsanwalt.

Trotzdem, das Haus im Grünen bleibt ein Traum wie eh und je.
Seit Jahrzehnten heißt es, je größer das Haus ist, desto besser. Auf Instagram wird das Haus hergezeigt, wenn der Bekannte jetzt für jedes Kind ein eigenes Bad hat, will ich das auch. Aber je größer das Haus, desto länger die Pendelzeit. Von den 45 Minuten täglich mit dem Auto in die Stadt sehe ich nie Storys auf Instagram. Ich bin Ökonom, aber da geht es um Soziologie, um Psychologie, um all diese Faktoren, die bewirken, dass man denkt, dass immer mehr besser ist. Es geht darum, zu sagen: Eigentlich stimmt das nicht, das kann nicht stimmen. Wir wissen, dass das ein Ende haben muss, sowohl aus ökonomischer Sicht als auch persönlich. Die Frage ist nicht, wie man Quadratmeter maximieren kann, sondern wie man die Lebensverhältnisse optimieren kann.

Sie leben mit Ihrer Frau und Ihren beiden Kindern in New York in Ihrem „Optimierungsprojekt“: sehr zentral, aber zu viert in einem Loft auf 70 Quadratmetern. Ist das ein gewisser Verzicht oder Ihre optimale Lebensform?
Das ist auch ein Selbstexperiment. Bei der Suche nach der idealen Wohnform gibt es Zielkonflikte. Die Lage, der Preis, wie hell ist es? Klar, New York schwebt in anderen Dimensionen als andere Städte. Aber uns ging es nicht darum, auf möglichst kleinem Raum zu leben, sondern um das ideale Wohnen für eine vierköpfige Familie. Je besser die Lage, je mehr es rundherum gibt, desto kleiner kann die Wohnung sein. Ich verbringe mehr Zeit draußen, habe kurze Wege. Ist das ideal für jeden? Natürlich nicht. Gott sei Dank, sonst würden alle in diese eine Wohnung wollen, und hier in New York sind die Mieten hoch genug. Wir hatten schon größere Wohnungen, haben aber am Ende fast die ganze Zeit zu Hause auf den 20 Quadratmetern der Küche verbracht. Jetzt leben wir im Prinzip wie in einer 70 Quadratmeter großen Küche, fast alles ist ein Raum, in dem wir sehr viel Zeit verbringen. Das ist nicht für jeden. Da muss man sich als Familie erst einmal mögen, aber für uns ist das ziemlich ideal.

Um Emissionen zu senken, diskutiert Österreich aktuell die CO2-Bepreisung. Welchen Preis schlägt der Klimaökonom vor?
Auf keinen Fall die 25 Euro, die der Finanzminister noch immer ins Treffen führt. Richtig wäre zu fragen, wie hoch die Kosten sind, die eine Tonne CO2 die Gesellschaft, die Umwelt, die Wirtschaft schon jetzt kostet. Die Schätzungen gehen auseinander, aber seriöse Berechnungen beginnen bei 100, oft 150 Euro und mehr pro Tonne. Damit wären wir bei einem Preis von zumindest 100 Euro pro Tonne CO2. Das wäre, was die Wissenschaft sagt. Dann gibt es natürlich die liebe Politik. Vergleichen wir also die 100 oder mehr Euro mit der Bepreisung anderer Emissionen: Schon jetzt werden laut Emissionshandelsgesetz mehr als 50 Prozent aller CO2-Emissionen in Europa mit mindestens 60 Euro pro Tonne bepreist. Jede Zahl unter diesen 60 Euro wäre also sehr, sehr wenig. Wir vergleichen uns in der Debatte immer mit Deutschland. Wie wäre es, wenn wir uns mit Schweden vergleichen? Die CO2-Steuer liegt dort mittlerweile bei um die 115 Euro pro Tonne.

Als Gegenargument gilt die soziale Verträglichkeit, die Sorge, für finanziell Schwächere würde das Leben übermäßig teuer.
Natürlich ist diese Steuerreform so zu gestalten, dass es Abfederung für Niedrigverdiener gibt. Es heißt nicht zu Unrecht ökosoziale Steuerreform. Aber tatsächlich hat diese Diskussion sehr wenig mit den sozialen Konsequenzen zu tun, wenig mit der Sorge vor Gelbwesten-Protesten wie in Frankreich, sondern mehr mit der Wirtschaftskammer oder der Industriellenvereinigung.

Wenn es etwa um Spritpreise geht: Ab welcher Preissteigerung erwarten Sie Lenkungseffekte?
Zu erwarten, dass der CO2-Preis irgendeinen Effekt auf die Entscheidung hat, ob wir Auto fahren oder nicht, ist illusorisch. 25 Euro pro Tonne CO2, das sind sieben Cent pro Liter Sprit, mit anderen Worten: fast null. Wollen wir Lenkung, geht es um das 1-2-3-Klimaticket, öffentlichen Verkehr, Kommunalpolitik, Regionalpolitik, um Entscheidungen, wo die nächste Jungfamilie wohnt. Wenn die im Tullnerfeld baut, zehn Autominuten vom Bahnhof entfernt, ist die Entscheidung getroffen, dass diese Familie die nächsten Jahrzehnte mit zwei Autos durch die Gegend gondelt. Das hat weniger mit der CO2-Steuer zu tun als damit, wo gebaut wird, wie billig Parken in Wien ist, mit einer Citymaut in Wien usw. Ich mache mir keine Illusionen, keine dieser Debatten ist leicht, wir haben nicht nur Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung gegen uns, auch jeden Autofahrerklub, die Bauindustrie, jeden Schwimmbadhersteller usw.

Was raten Sie im Hinblick darauf Wien? In der selbst ernannten Klimamusterstadt läuft eine Debatte über Straßenbau, um periphere Stadtentwicklungsgebiete anzubinden. Noch zeitgemäß?
Ohne auf die konkrete Debatte einzugehen, über die ich wenig weiß: Österreich hat wie gesagt 15 Straßenkilometer pro Person, fast doppelt so viele wie Nachbarländer.

Sie meinen, damit muss man das Auslangen finden?
Das hat nichts mit dem Auslangen zu tun, das hat damit zu tun: Wie wollen wir Dinge in die Wege lenken, wo wollen wir, dass sich die nächsten 10.000, 100.000 Familien entscheiden zu leben? Wollen wir ein weiteres Tullnerfeld im Nordosten Wiens? Aus Klima- und Naturschutzgründen würde ich sagen:
Hoffentlich nicht! Die Argumente für den Bahnhof Tullnerfeld waren: Dort wohnen so viele Menschen, durch den Bahnhof haben sie die Chance, mit dem Zug zu pendeln. Tatsächlich ging es darum, das Tullnerfeld zu erschließen, Tausenden mehr zu ermöglichen, dort ein Haus zu bauen. Jedes Mal, wenn wir eine Bahnstrecke oder eine Straße bauen, geht es darum, wie wir wollen, dass sich Dinge in Zukunft entwickeln. Welche Investition, welche Infrastrukturmaßnahmen sollten wir jetzt in die Wege leiten, damit sich die nächste Jungfamilie für ein klima- und allgemein effizientes Leben entscheiden kann, statt für das Einfamilienhaus in Suburbia?

Gernot Wagner, geboren 1980 in Amstetten, forscht seit mehr als 20 Jahren in den USA. Nach Stationen in Harvard, Stanford und Columbia lehrt er an der New York University und schreibt die „Risky Climate“-Kolumne für Bloomberg. Das Buch: „Stadt, Land, Klima. Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten“, Brandstätter-Verlag.

Das Interview erschien in der Presse am 2. 10. 2021 unter dem Titel: „Die Verbauung muss stoppen“, am 1. 10. 2021 online unter dem Titel: „Experte: Warum das Leben in der Vorstadt das Klima zerstört“.

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