Gespräch mit Marcus Gatzke und Marlies Uken
Gernot Wagner ist ein österreichisch-amerikanischer Klimaökonom und Autor. Seit 2019 unterrichtet und forscht er an der New York University, davor an der Harvard University. Für das Interview via Zoom ist er von seinem Rad abgestiegen und läuft durch die Straßen New Yorks.
ZEIT ONLINE: Herr Wagner, in einem großen Essay haben Sie vor wenigen Tagen geschrieben, dass es ein Fehler sei, im Kampf gegen den Klimawandel komplett auf Atomkraft zu verzichten. Wie waren die Reaktionen aus Deutschland und Österreich?
Gernot Wagner: Ich habe mit Vertretern von Grün bis Schwarz aus beiden Ländern gesprochen. Aber dort ist der Atomausstieg längst entschieden. Eine Rückkehr ist ausgeschlossen. Darüber herrscht auch parteiübergreifend weitgehend Konsens. Aber gilt das auch für den ganzen Rest der Welt? Ich glaube, dass Atomkraft an anderen Orten Teil der Lösung im Kampf gegen den Klimawandel ist.
ZEIT ONLINE: Es sind hauptsächlich drei Dinge, die gegen Atomenergie sprechen. Diskutieren wir sie einmal durch. Erstens: Atomkraft produziert jahrhundertelang gefährlich strahlenden Müll, von dem wir nicht wissen, wo und wie wir ihn lagern sollen.
Wagner: Dem würde ich teilweise widersprechen. Für das Technische, also das Wie, gibt es Lösungen, die gibt es schon lange. Vereinfacht gesagt, wenn man den Restmüll in genug Beton und Stahl einwickelt und tief genug im Felsgestein lagert, geht von ihm keine Gefahr mehr aus. Was wir gerade mit ihm machen, ist dagegen das Dümmste überhaupt: Wir lagern ihn teils direkt neben den Atomkraftwerken.
ZEIT ONLINE: In Deutschland wird seit Jahrzehnten nach einem vernünftigen Standort für ein Endlager gesucht – ohne Erfolg.
Wagner: Da sind wir beim Wo und bei der lieben Politik. Nehmen Sie die USA: Dort gibt es mit dem Yucca Mountain im Bundesstaat Nevada einen guten Ort für ein Endlager. Insgesamt sind bereits 15 Milliarden Dollar in das Projekt geflossen. Allerdings kam der eben verstorbene langjährige Führer der Senatsmehrheit der Demokraten auch aus Nevada. Das Resultat? Es gibt drei Jahrzehnte nach Beginn der Planung immer noch kein Endlager.
ZEIT ONLINE: Niemand möchte Atommüll in seiner Nachbarschaft. Ist das so unverständlich?
Wagner: Nein, das ist nur allzu menschlich. Dabei wissen viele Menschen aber gar nicht, um wie viel Atommüll es überhaupt geht. In den USA sind es beispielsweise 85.000 Tonnen. Das klingt nach viel, entspricht aber einem vollen Fußballfeld, zehn Meter hoch. Vergleichen Sie das mit den Dutzenden Milliarden Tonnen von Kohlendioxid, die erzeugt worden wären, wenn der Strom aus fossilen Brennstoffen gekommen wäre.
ZEIT ONLINE: Es handelt sich aber um ein über Jahrhunderte strahlendes und sehr gefährliches Fußballfeld …
Wagner: Für dessen Lagerung es gute technische Lösungen gibt. Wie viele Menschen sterben jetzt schon jedes Jahr durch den Klimawandel? Wie viele durch diesen Atommüll?
ZEIT ONLINE: Das zweite Argument gegen Atomkraft lautet: Sie ist in Wahrheit nicht billig, sondern sehr teuer. Die Meiler, die gerade in Finnland, Frankreich und Großbritannien gebaut werden, kosten ein Vielfaches mehr als ursprünglich geplant.
Wagner: Atomkraft ist momentan noch teuer, das stimmt. Der Grund ist simpel: Wir wollen, dass die Kraftwerke so sicher wie irgend möglich sind. Aber was spricht dagegen, in die Forschung und Entwicklung zu investieren, um die Energieform mittelfristig günstiger zu machen? Vor zehn Jahren war die Solarenergie zehnmal so teuer wie heute. Es wurde glücklicherweise viel investiert und geforscht, um sie effizienter und damit billiger zu machen.
ZEIT ONLINE: Die EU streitet derzeit darüber, Atom und Gas als nachhaltige Energieformen einzustufen – auch, um so Investorengelder einzuwerben. Das wäre also ganz in Ihrem Sinne?
Wagner: Teils, ja. Natürlich geht es insgesamt darum die Wende auf eine hauptsächlich erneuerbare Zukunft zu schaffen, und nein, da zähle ich weder Gas noch Atomstrom dazu – die EU-Kommission übrigens auch nicht.
ZEIT ONLINE: Frankreich, Großbritannien, aber auch Bill Gates fördern gerade die Entwicklung einer neuen Generation von Reaktoren. Die werden aber frühestens in etlichen Jahren verfügbar sein. Um den Klimawandel zu bekämpfen, brauchen wir schnellere Lösungen.
Wagner: Das stimmt. Natürlich sollen wir alle ein Vielfaches mehr in Wind und Solar investieren als in Atomkraft. Niemand wird seriös behaupten, dass Atomkraft die notwendigen Investitionen in erneuerbare Energien ersetzen kann. Dass die heutigen Reaktoren so teuer sind, liegt auch daran, dass jeder Reaktor quasi ein Einzelstück ist. Was würde ein Mercedes kosten, wenn er von einem Mechanikerteam bei Ihnen in der Garage zusammengebaut würde – und nicht am Fließband? Genau darum etwa geht es bei den sogenannten “modularen” Reaktoren. Das oft erwähnte Ziel: kleine, extrem sichere Reaktoren, die quasi in Massenfertigung produziert werden können.
ZEIT ONLINE: Warum sollte ich einen Energieträger, der kostenmäßig weit abgeschlagen ist, mit viel Steuergeld wieder günstiger machen, wenn ich stattdessen genügend saubere Alternativen habe?
Wagner: Weil Atomstrom tatsächlich auch Vorteile hat. Etwa sorgen Atomkraftwerke vielerorts für die nötige Grundlast, also die Strommenge, die permanent gebraucht wird. Das verleiht somit dem Netz die nötige Stabilität und macht dies mitunter insgesamt viel billiger als es ein Netz mit 100 Prozent Wind- und Solarenergie.
ZEIT ONLINE: Auch dafür gibt es genügend Alternativen, wie Wasserkraft oder effiziente Gaskraftwerke.
Wagner: Ja, nur natürlich gibt es Wasserkraft eben nicht überall und selbst die effizientesten Gaskraftwerke produzieren immer noch Unmengen an CO₂-Emissionen, von Methan jetzt einmal ganz abgesehen – Methan entkommt sowohl aus dem Leck in der Gasleitung als auch von so manchen Stauseen in großer Menge. Also Abstriche gibt es überall. Dass man in Österreich kein neues Atomkraftwerk bauen will, weil über 60 Prozent der Elektrizität aus Wasserkraft kommen, ist nachvollziehbar. Ähnlich ist es auf Island, die Menschen dort brauchen nicht mal Windräder, weil sie ihren Energiebedarf jetzt schon zu 100 Prozent aus Wasserkraft und Geothermie decken können. Aber was ist mit großen und schnell wachsenden Ländern wie China und Indien?
ZEIT ONLINE: China investiert massiv in den Ausbau von Wind und Wasserkraft.
Wagner: Solar auch, und das ist gut so. China plant für die kommenden 15 Jahre aber auch 150 neue Reaktoren, um den wachsenden Strombedarf zu decken und die klimaschädlichen Kohlekraftwerke zu ersetzen. Bei 1,3 Milliarden Menschen ist nun mal alles etwas größer. Dabei forscht das Land etwa auch am ersten Flüssigsalzreaktor, der Thorium als Brennstoff verwendet statt des radioaktiveren Plutoniums oder Urans. Thorium entsteht derzeit als Abfallprodukt in Chinas Minen für Seltene Erden, die teils für Batterien und Solaranlagen verwendet werden.
Diese neuen Nukleartechnologien sind vergleichbar mit Investitionen in Technologien, die Kohlendioxid direkt aus der Luft filtern. Sie ersetzen keine Maßnahmen, mit denen wir hier und jetzt die Emissionen reduzieren müssen, aber sie sind global notwendig, um mittelfristig die ehrgeizigen Klimaziele zu erfüllen.
ZEIT ONLINE: Das dritte Argument gegen Atomkraft lautet: Die Folgen eines GAU, sei die Wahrscheinlichkeit auch noch so gering, sind einfach zu groß. Haben uns Tschernobyl und Fukushima nicht gezeigt, dass Atomkraft im schlimmsten Fall unkontrollierbar ist?
Wagner: Tschernobyl und Fukushima müssen getrennt betrachtet werden. Der GAU in Tschernobyl war extrem schlimm und hatte weitreichende Folgen. Dass in Russland immer noch neun Reaktoren dieses Typs am Netz sind, ist eine Katastrophe. Dass diese Kraftwerke nicht nach westlichen Sicherheitsstandards gebaut worden sind und hier nie ans Netz gegangen wären, ist auch klar.
ZEIT ONLINE: Und Fukushima?
Wagner: Je nach Perspektive könnte man das auch als Erfolgsgeschichte beschreiben.
ZEIT ONLINE: Wie bitte?
Wagner: Der Unfall hat gezeigt, warum die sehr teuren Sicherheitsvorkehrungen richtig und wichtig sind und sie auch weitestgehend funktionieren.
ZEIT ONLINE: Das müssen Sie erklären.
Wagner: Erst mal: Was ist damals passiert? Das größte Erdbeben in der Geschichte Japans hat einen riesigen Tsunami ausgelöst. Durch die Naturkatastrophe starben um die 20.000 Menschen. Bis heute können immer noch um die 40.000 Menschen nicht in ihre Häuser. Aber wie viele Menschen erkrankten oder starben durch nukleare Verstrahlung? Gemäß dem umfangreichsten Bericht zum Thema, einem UN-Bericht von 2021: genau niemand. Lediglich ein Arbeiter im Atomkraftwerk, der größeren Strahlenmengen ausgesetzt war, erlag einer Krebserkrankung.
ZEIT ONLINE: Vielleicht haben wir einfach Glück gehabt?
Wagner: Natürlich ist die Atomkraft nicht ohne Risiko. Die Kosten und Risiken sind sogar äußerst sichtbar. Aber gleichzeitig ist auch klar: Sowohl in Japan als auch Deutschland sind im letzten Jahrzehnt Tausende von Menschen gestorben, weil politisch entschieden wurde, erst die Atomkraftwerke und dann viel später die dreckigen Kohlekraftwerke abzuschalten.
ZEIT ONLINE: Hat Deutschland mit dem Atomausstieg aus Ihrer Sicht einen Fehler gemacht?
Wagner: Gott sei Dank bin ich kein Politiker. Fakt ist: Die CO₂-Emissionen liegen in Deutschland heute pro Person trotz ambitionierter Energiewende bei acht Tonnen Kohlendioxid, während Frankreich mit seinem großen Bestand an Kernkraftwerken weniger als fünf Tonnen pro Kopf ausstößt.
Aber zum vollständigen Bild gehört auch: Erst Deutschland und China haben Ökostrom so günstig gemacht und sowohl sich selbst enorme Vorteile geschaffen als auch uns im Kampf gegen den Klimawandel global vorangebracht. Deutschland hat auf der Nachfrageseite für den notwendigen Boom von Wind- und vor allem Solarkraft gesorgt und China hat diese Nachfrage mit stark subventioniertem Angebot gedeckt. Auf Englisch würde ich jetzt antworten: “Deutsch und Chinesisch Lernen, und fleißig Dankeskarten schreiben!”
Erschienen mit dem Titel “Atomkraft ist Teil der Lösung” am 16. Januar 2022 auf ZEIT.de.
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